1.
Letzten Mittwoch war ich
im Studio von Christiane Schlosser und an der Wand hing, mit Nadeln
an die Wand gepinnt, das Bild o.T. / das Denken ist ein wilder
Affe. Es ist etwa 120 cm hoch und
170 cm
breit und besteht aus Punkten, die je nach Licht schwarz, dunkelblau
aussehen. Und drei helleren blauen Flecken, an denen die Punkte
verwischt sind und die sich als Fläche, leichter, luftiger, etwas
weiter oben auf der Struktur des Papiers ausbreiten.
WIR VERSUCHEN ETWAS ZU FINDEN, DAS SICH SO OFFENSICHTLICH ANFÜHLT, WENN ES DA IST, DAS SICH ABER IMMER WIEDER DEN WORTEN, DEN BILDERN UND DEN NARRATIVEN ENTZIEHT.
Letzten Mittwoch habe ich
mich vor das Bild gestellt und mein Körper, mein Rumpf, Magen, Herz,
Lunge, hat sich das Bild angeguckt und wurden
warm, hat diese Wärme von innen bis an die leichtere,
verwischte Struktur der Haut gedrückt, wurde leicht zurückgehalten,
hat die Wärme zurückschwappen lassen, in die tieferen Schichten, in
die Muskeln und Knochen und Sehnen, Nerven, Membranen und in diesem
Rhythmus des Schwappens und Fließens, habe ich etwas gefunden, was
sich so offensichtlich angefühlt hat: das Volumen meines
Körperinneren.
2.
Ich habe begonnen die
Bilder zu lesen. Morgens beim Kaffeemahlen, vor dem Spülen am
Nachmittag, in der Abendsonne. Das Bild, das in der Küche hängt,
ist ein in roter Tinte auf Papier laufender, sich
übereinanderlegender, untereinanderdurchlaufender Kringel, dessen
Anfang und Ende ineinanderlaufen. Ich bin gerade bei der Stelle, wo
eine Abwärtsbewegung am linken Rand des Bildes zum dritten Mal erst
in die Mitte und dann auf die rechte Seite zieht und immer tiefer in
den Untergrund drängt, indem er die bestehenden Bewegungen
unterläuft. Was wird auf den nächsten Seiten passieren?
3.
Mittwoch vor zwei Wochen
habe ich die Karte gelesen, auf der Christiane ihren Zugang zu und
ihre Arbeitsweise des Zeichnens beschreibt. Sie hing, seitdem ich sie
geschenkt bekommen habe, in der Küche der Sonnenallee und ich habe
sie all die Jahre kein einziges Mal gelesen. Vor zwei Wochen habe ich
sie von der Wand genommen, gefaltet, in meine Tasche gesteckt, und
mit den ersten Sonnenstrahlen des beginnenden Sommers, die Füße im
Sand auf dem Spielplatz, wie eine Zeitung gelesen.
DIE SONNE WIRKT SICH AUF DAS ZEICHNEN AUS, WIE SIE SICH AUF DEN GESANG DER VÖGEL UND AUF DAS WACHSEN VON PFLANZEN AUSWIRKT. UND DIE PUNKTE, DIE DER STIFT AUF DAS PAPIER SCHREIBT SIND SAMEN DIE IN DIE ERDE GEDRÜCKT WERDEN.
Ich erinnere
mich an den Abdruck, den das Bild mit den Punkten (o.T. / das
Denken ist ein wilder
Affe) in mir hinterlassen hat und sehe die Samen
wachsen.
4.
Ich merke, wie das
Schreiben des Textes über die Zeichnungen von Christiane mein
Schreiben beeinflusst. Oder Impulse in meinem Schreiben stärkt,
fördert, hervorhebt, einen Raum gibt, die schon da sind, aber sich
bis jetzt noch zurückgehalten haben.
WARUM ZEIGST DU DEINE BILDER OHNE RAHMEN?
Was würde passieren, wenn
die Bewegung, der Rhythmus und die Überraschung, die Überwältigung
durch das beschriebene Phänomen Eingang in die Sprache fänden, wenn
die Formierung der Sätze in dem Moment des Überflusses geschehen
würde, und die Flüsse sich über das Flussbett, aber auch darüber
hinaus ausbreiten würden, in Seitenarmen & Strängen
unvorhergesehen fließen würden. Wenn die Bewegungen, die die
Grammatik in Bahnen lenkt, vorgibt und ordnet, außer Kraft gesetzt
werden, und die Sätze statt linear,
sich von mehreren Seiten verbinden lassen würden (und das auf Kosten
der Grammatik, die den Verstehensfluss durch den Satz ermöglicht).
Was, wenn die Fehler in der Grammatik - die dazu führen, dass
ein Satz in der Mitte auseinanderfällt, oder Teile in einem Satz
sich aufeinander beziehen, ohne dass singulare und plurale Formen
notwendig mit ihren Verbformen zusammenpassen - nicht verbessert
werden würden.
5.
Für Christiane Schlosser
ist Zeichnen ähnlich wie das
Komponieren von Musik. Die Bedeutung ihrer Zeichnungen ist für
sie auf ähnliche Art und Weise zu
suchen, wie die Bedeutung von Musik gesucht werden würde. Welchen
Klang haben die Zeichnungen. Wie baut sich die Komposition auf.
Welchen Rhythmus gibt sie vor. Wie wirkt sie sich auf die Körper
aus, die sich die Zeichnung anhören.
IN 1976, OUR FRIEND, COMPOSER AND SINOLOGIST R.I.P. HAYMAN, CONDUCTED EXPERIMENTS AT THE SLEEP RESEARCH LABORATORIES AT THE MONTEFIORE MEDICAL CENTER, NEW YORK. THESE EARLY EXPERIMENTS, AS WELL AS MORE RECENT SCIENTIFIC STUDIES, SHOW THAT THE TYMPANIC MEMBRANE OF THE EAR, COMMONLY KNOWN AS THE EARDRUM, RESPONDS TO THE SOUNDS IN OUR DREAMS.
Am Mittwoch, vor ein paar
Tagen erst, habe ich damit angefangen, die Zeichnungen zu hören.
6.
Licht, Schatten, Form,
Farbe und Bewegung sind die visuellen Ereignisse, die uns beim Tanzen
in Studio 3 nur ein paar Straßen weiter in Bewegung bringen.
TO PERCEIVE SOMETHING THREEDIMENSIONAL, PERCEIVE YOURSELF THREEDIMENSIONALLY.
Den Bewegungen des
Gezeichneten mit den Augen zu folgen, seinen Vorschlägen, Flüssen,
Unterbrechungen, Wiederaufnahmen, seinen Perfektionen und
Imperfektionen zu folgen, öffnet in den Zeichnungen einen Raum, der
Tiefe bekommt. In dem sich Schicht über Schicht legt und in dem auf
sanfte, umsichtige, tastende und entschlossene Weise in die Flachheit
des Papiers das Räumliche installiert wird. Als Überwindung der
Zentralperspektive durch die Weite? Wie tief können die Augen in die
Weite schauen, die sich in der Zweidimensionalität des Papiers
öffnet? Wie weit kann sich das Papier nach hinten öffnen, wie tief
ist der Raum, der auf der Oberfläche des Papiers angefangen hat? Der
Raum, der dem Körper, der vor der Zeichnung steht und schaut, seine
Dreidimensionalität zu spüren gibt/schenkt.
7.
Die ersten zwei Titel
hörte ich in der Ausstellung.
THE FIELD OF SOUND CAN BE FELT AS POTENTIAL FORCE. THERE IS ACTIVE PARTICIPATION BY THE LISTENER AND CO-CREATION OF THIS FORM BETWEEN THE LISTENER AND SOUNDS. THE FIELD ASSUMES MEANING (POTENTIAL FORCE) AND IS TRANSFORMED BY THE LISTENER. THE LISTENER IS ALSO TRANSFORMED BY THE FIELD.
Wir waren zu einer
Soundperformance in die Galerie gefahren, bei der Eröffnung waren
wir verreist, sahen also die Bilder zum ersten Mal. Es war zwischen
18 und 19 Uhr, und das Licht vom Anfang des Sommers (Mitte Mai)
leuchtete in die Axel Obiger Galerie durch die Scheiben auf das Bild.
Das leuchtete und strahlte und als ich mich davor stellte, war es als
ob ich in die Gegenwart von einem Organ eintreten würde, das mich
warm umschloss und pulsierte. War es mein Blick, der in das Bild
eintauchte, um nach Details zu suchen, um dann das Suchen aufzugeben
und die visuellen Eindrücke ankommen zu lassen, wie Geräusche, die
auf das Ohr schweben, der das Bild zum Pulsieren, zum Leuchten
brachte? Oder war es das Bild, das meinen Blick lenkte? Das Herz ist
ein Organ, dachte ich und ging zu den anderen drei Bildern, die
hinten links hingen. Herz (Organ) und Berge, inner ear
waren die ersten zwei Titel, die mir beim Angucken
der Bilder kamen.
8.
Wir sitzen am Küchentisch
und geben einem Bild nach dem anderen Namen. Sie kommen in den Sinn,
manchmal zu lang, als ganze Sätze, manchmal zu bedeutsam, zu
künstlerisch, dann müssen sie gekürzt werden, bis nur noch das
bleibt, was das Bild in dem Moment, in dem es vor uns liegt, von sich
gibt.
- Philpp Hege
Der Text enthält Zitate von Ione, As I Write, I Listen in Quantum Listening, Ignota Books 2022; Shannon Cooney, Dynamic Expansion, Moveable Cinema, Fluid Dynamics, mündlich in Studio 3, Tanzfabrik, Möckernstraße 68, 10965 Berlin und Pauline Oliveros, Quantum Listening, From Practice to Theory (to Practice Practice), Ignota Books 2022.
Philipp Hege ist Autor, Tänzer und gemeinsam mit Moses März Herausgeber von MITTEL UND ZWECK (MUZ)