Philipp Hege: Zum Lesen der Zeichnungen von Christiane Schlosser

1.

Letzten Mittwoch war ich im Studio von Christiane Schlosser und an der Wand hing, mit Nadeln an die Wand gepinnt, das Bild o.T. / das Denken ist ein wilder Affe. Es ist etwa 120 cm hoch und 170 cm breit und besteht aus Punkten, die je nach Licht schwarz, dunkelblau aussehen. Und drei helleren blauen Flecken, an denen die Punkte verwischt sind und die sich als Fläche, leichter, luftiger, etwas weiter oben auf der Struktur des Papiers ausbreiten.

WIR VERSUCHEN ETWAS ZU FINDEN, DAS SICH SO OFFENSICHTLICH ANFÜHLT, WENN ES DA IST, DAS SICH ABER IMMER WIEDER DEN WORTEN, DEN BILDERN UND DEN NARRATIVEN ENTZIEHT.

Letzten Mittwoch habe ich mich vor das Bild gestellt und mein Körper, mein Rumpf, Magen, Herz, Lunge, hat sich das Bild angeguckt und wurden warm, hat diese Wärme von innen bis an die leichtere, verwischte Struktur der Haut gedrückt, wurde leicht zurückgehalten, hat die Wärme zurückschwappen lassen, in die tieferen Schichten, in die Muskeln und Knochen und Sehnen, Nerven, Membranen und in diesem Rhythmus des Schwappens und Fließens, habe ich etwas gefunden, was sich so offensichtlich angefühlt hat: das Volumen meines Körperinneren.

2.
Ich habe begonnen die Bilder zu lesen. Morgens beim Kaffeemahlen, vor dem Spülen am Nachmittag, in der Abendsonne. Das Bild, das in der Küche hängt, ist ein in roter Tinte auf Papier laufender, sich übereinanderlegender, untereinanderdurchlaufender Kringel, dessen Anfang und Ende ineinanderlaufen. Ich bin gerade bei der Stelle, wo eine Abwärtsbewegung am linken Rand des Bildes zum dritten Mal erst in die Mitte und dann auf die rechte Seite zieht und immer tiefer in den Untergrund drängt, indem er die bestehenden Bewegungen unterläuft. Was wird auf den nächsten Seiten passieren?

3.
Mittwoch vor zwei Wochen habe ich die Karte gelesen, auf der Christiane ihren Zugang zu und ihre Arbeitsweise des Zeichnens beschreibt. Sie hing, seitdem ich sie geschenkt bekommen habe, in der Küche der Sonnenallee und ich habe sie all die Jahre kein einziges Mal gelesen. Vor zwei Wochen habe ich sie von der Wand genommen, gefaltet, in meine Tasche gesteckt, und mit den ersten Sonnenstrahlen des beginnenden Sommers, die Füße im Sand auf dem Spielplatz, wie eine Zeitung gelesen.

DIE SONNE WIRKT SICH AUF DAS ZEICHNEN AUS, WIE SIE SICH AUF DEN GESANG DER VÖGEL UND AUF DAS WACHSEN VON PFLANZEN AUSWIRKT. UND DIE PUNKTE, DIE DER STIFT AUF DAS PAPIER SCHREIBT SIND SAMEN DIE IN DIE ERDE GEDRÜCKT WERDEN.

Ich erinnere mich an den Abdruck, den das Bild mit den Punkten (o.T. / das Denken ist ein wilder Affe) in mir hinterlassen hat und sehe die Samen wachsen.

4.
Ich merke, wie das Schreiben des Textes über die Zeichnungen von Christiane mein Schreiben beeinflusst. Oder Impulse in meinem Schreiben stärkt, fördert, hervorhebt, einen Raum gibt, die schon da sind, aber sich bis jetzt noch zurückgehalten haben.

WARUM ZEIGST DU DEINE BILDER OHNE RAHMEN?

Was würde passieren, wenn die Bewegung, der Rhythmus und die Überraschung, die Überwältigung durch das beschriebene Phänomen Eingang in die Sprache fänden, wenn die Formierung der Sätze in dem Moment des Überflusses geschehen würde, und die Flüsse sich über das Flussbett, aber auch darüber hinaus ausbreiten würden, in Seitenarmen & Strängen unvorhergesehen fließen würden. Wenn die Bewegungen, die die Grammatik in Bahnen lenkt, vorgibt und ordnet, außer Kraft gesetzt werden, und die Sätze statt linear, sich von mehreren Seiten verbinden lassen würden (und das auf Kosten der Grammatik, die den Verstehensfluss durch den Satz ermöglicht). Was, wenn die Fehler in der Grammatik - die dazu führen, dass ein Satz in der Mitte auseinanderfällt, oder Teile in einem Satz sich aufeinander beziehen, ohne dass singulare und plurale Formen notwendig mit ihren Verbformen zusammenpassen - nicht verbessert werden würden.

5.
Für Christiane Schlosser ist Zeichnen ähnlich wie das Komponieren von Musik. Die Bedeutung ihrer Zeichnungen ist für sie auf ähnliche Art und Weise zu suchen, wie die Bedeutung von Musik gesucht werden würde. Welchen Klang haben die Zeichnungen. Wie baut sich die Komposition auf. Welchen Rhythmus gibt sie vor. Wie wirkt sie sich auf die Körper aus, die sich die Zeichnung anhören. 

IN 1976, OUR FRIEND, COMPOSER AND SINOLOGIST R.I.P. HAYMAN, CONDUCTED EXPERIMENTS AT THE SLEEP RESEARCH LABORATORIES AT THE MONTEFIORE MEDICAL CENTER, NEW YORK. THESE EARLY EXPERIMENTS, AS WELL AS MORE RECENT SCIENTIFIC STUDIES, SHOW THAT THE TYMPANIC MEMBRANE OF THE EAR, COMMONLY KNOWN AS THE EARDRUM, RESPONDS TO THE SOUNDS IN OUR DREAMS.

Am Mittwoch, vor ein paar Tagen erst, habe ich damit angefangen, die Zeichnungen zu hören.

6.
Licht, Schatten, Form, Farbe und Bewegung sind die visuellen Ereignisse, die uns beim Tanzen in Studio 3 nur ein paar Straßen weiter in Bewegung bringen.

TO PERCEIVE SOMETHING THREEDIMENSIONAL, PERCEIVE YOURSELF THREEDIMENSIONALLY.

Den Bewegungen des Gezeichneten mit den Augen zu folgen, seinen Vorschlägen, Flüssen, Unterbrechungen, Wiederaufnahmen, seinen Perfektionen und Imperfektionen zu folgen, öffnet in den Zeichnungen einen Raum, der Tiefe bekommt. In dem sich Schicht über Schicht legt und in dem auf sanfte, umsichtige, tastende und entschlossene Weise in die Flachheit des Papiers das Räumliche installiert wird. Als Überwindung der Zentralperspektive durch die Weite? Wie tief können die Augen in die Weite schauen, die sich in der Zweidimensionalität des Papiers öffnet? Wie weit kann sich das Papier nach hinten öffnen, wie tief ist der Raum, der auf der Oberfläche des Papiers angefangen hat? Der Raum, der dem Körper, der vor der Zeichnung steht und schaut, seine Dreidimensionalität zu spüren gibt/schenkt.

7.
Die ersten zwei Titel hörte ich in der Ausstellung. 

THE FIELD OF SOUND CAN BE FELT AS POTENTIAL FORCE. THERE IS ACTIVE PARTICIPATION BY THE LISTENER AND CO-CREATION OF THIS FORM BETWEEN THE LISTENER AND SOUNDS. THE FIELD ASSUMES MEANING (POTENTIAL FORCE) AND IS TRANSFORMED BY THE LISTENER. THE LISTENER IS ALSO TRANSFORMED BY THE FIELD.

Wir waren zu einer Soundperformance in die Galerie gefahren, bei der Eröffnung waren wir verreist, sahen also die Bilder zum ersten Mal. Es war zwischen 18 und 19 Uhr, und das Licht vom Anfang des Sommers (Mitte Mai) leuchtete in die Axel Obiger Galerie durch die Scheiben auf das Bild. Das leuchtete und strahlte und als ich mich davor stellte, war es als ob ich in die Gegenwart von einem Organ eintreten würde, das mich warm umschloss und pulsierte. War es mein Blick, der in das Bild eintauchte, um nach Details zu suchen, um dann das Suchen aufzugeben und die visuellen Eindrücke ankommen zu lassen, wie Geräusche, die auf das Ohr schweben, der das Bild zum Pulsieren, zum Leuchten brachte? Oder war es das Bild, das meinen Blick lenkte? Das Herz ist ein Organ, dachte ich und ging zu den anderen drei Bildern, die hinten links hingen. Herz (Organ) und Berge, inner ear waren die ersten zwei Titel, die mir beim Angucken der Bilder kamen.

8.
Wir sitzen am Küchentisch und geben einem Bild nach dem anderen Namen. Sie kommen in den Sinn, manchmal zu lang, als ganze Sätze, manchmal zu bedeutsam, zu künstlerisch, dann müssen sie gekürzt werden, bis nur noch das bleibt, was das Bild in dem Moment, in dem es vor uns liegt, von sich gibt.

- Philpp Hege



Der Text enthält Zitate von Ione, As I Write, I Listen in Quantum Listening, Ignota Books 2022; Shannon Cooney, Dynamic Expansion, Moveable Cinema, Fluid Dynamics, mündlich in Studio 3, Tanzfabrik, Möckernstraße 68, 10965 Berlin und Pauline Oliveros, Quantum Listening, From Practice to Theory (to Practice Practice), Ignota Books 2022.


Philipp Hege ist Autor, Tänzer und gemeinsam mit Moses März Herausgeber von MITTEL UND ZWECK (MUZ)